Erlebte Rede (nach Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur)
= besondere Art der Wiedergabe von Gefühlen, Wahrnehmungen, Gedanken einer handelnden Figur in deren Sprechstil innerhalb der Epik; nicht als Monolog in direkter Rede im Präsens oder als indirekte Rede im Konjunktiv, abhängig von einem übergeordnetem Verb, sondern Zwischenform in der 3. Person Indikativ Imperfekt. Die inneren Vorgänge werden durch die Perspektive nicht des Erzählers, sondern der sie selbst erlebenden Person wiedergegeben, jedoch durch die Verwendung der 3.Person in direktem und dadurch mehr objektiv-unpersönlich erscheinendem Bericht. Durch beliebigen Wechsel der Perspektive ist eine größere erzählerische Beweglichkeit gegeben.
„Besonders geeignet ist die erlebte Rede für die Wiedergabe von Gedanken, Reflexionen, unausgesprochenen Fragen, affektbeladenen Empfindungen. [...] Oftmals ist nicht genau auszumachen, ob eine bestimmte Textpartie zum Erzählerbericht gehört oder subjektive Äußerung einer Romanfigur ist. Realität und persönlich-zufällige Wahrnehmung können ineinanderfließen. Leicht nimmt der Text so eine Färbung der Ungewissheit an. Statt epischer Omniszienz dominieren ‚Redewendungen des Zweifels und Vermutens’, Fragen.“ (Jochen Vogt, Aspekte erzählender Prosa, S.74)
O’Henry, Das Geschenk der Weisen: Mischung auktoriales Erzählverhalten/ erlebte Rede.
Ihr ganzes Vermögen war 1 Dollar, 87 Cent, davon 60 Cent in Pennystücken. Alles mühsam zusammengekratzt und gespart. Und morgen war Weihnachten. Nichts blieb übrig, als sich auf die kleine, schäbige Couch zu werfen und zu heulen. Das tat Della denn auch, und es beweist uns, daß sich das Leben eigentlich aus Schluchzen, Seufzen und Lächeln zusammensetzt, wobei das Seufzen unbedingt vorherrscht.
Thomas Mann, Tonio Kröger
Tonio verstummte, und seine Augen trübten sich. Hatte Hans es vergessen, fiel es ihm erst jetzt wieder ein, daß sie heute Mittag ein wenig zusammen spazieren gehen wollten? Und er selbst hatte sich seit der Verabredung beinahe unausgesetzt darauf gefreut!